Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19. Oktober 2016 zu den Rx-Boni von DocMorris und Co. beschränkt sich in seiner Auswirkung nicht allein auf die Arzneimittelpreisverordnung. Anders als in der Öffentlichkeit bisher dargestellt beziehungsweise wahrgenommen, trifft das Urteil unser gesamtes Arzneimittel-erstattungssystem. Darauf verweist jetzt die Kanzlei für Medizinrecht Dr. Schmidt-Felzmann & Kozianka in einem aktuellen Beitrag der Zeitschrift „PharmaRecht“ (Heft 1/2017).
In dem Aufsatz wird verdeutlicht, dass die Arzneimittelpreisbindung eine der drei wesentlichen Säulen der Arzneimittelversorgung in Deutschland – und damit des deutschen gesetzlichen Gesundheits- und Krankenversicherungssystems – ist.
So basieren beispielsweise die bereits 1988 mit dem Gesundheitsreformgesetz (GRG) etablierten Festbeträge auf einem einheitlichen Apothekenabgabepreis (§ 35 Abs. 5 Sozialgesetzbuch (SGB) V). Noch prägnanter wird die Abhängigkeit von einem einheitlichen Apothekenabgabepreis bei sämtlichen Abschlagvorschriften des SGB – und das sowohl für Fertigarzneimittel wie für Impfstoffe V (§§ 130, 130a SGB V).
Einheitliche Apothekenabgabepreise erfordern darüber hinaus die Vorschriften des Rahmenvertrags nach § 129 Abs. 2 SGB V. „Wie anders als über einen Vergleich mit einem einheitlichen Apothekenabgabepreis ist bei der Umsetzung der Aut-idem-Regelung und bei der – verpflichtenden – Auswahl von Importarzneimitteln die preisgünstigste Arzneimittelalternative zu bestimmen?“, fragen die Autoren des Beitrags zu Recht.
Überdies widerspricht das Urteil von 2016 einem EuGH-Spruch aus dem Jahr 2003 (Rechtssache C-322/01), dem zufolge „eine ... Beschränkung des freien Warenverkehrs durch eine andernfalls eintretende ‚erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit’ gerechtfertigt sein kann“. Und: „ ... ein nationaler Markt für verschreibungspflichtige Arzneimittel [kann] durch Faktoren nichtwirtschaftlicher Art gekennzeichnet sein, so dass eine nationale Regelung, die die Verkaufspreise für bestimmte Arzneimittel festlegt, deshalb beizubehalten ist, weil sie einen integralen Bestandteil des nationalen Gesundheitswesens bildet.“
Fazit: Der EuGH richtet mit seinem jüngsten Urteil einen Scherbenhaufen an, der im Übrigen noch weit größer ist als hier angesprochen. Eine Lockerung – oder gar Aufhebung – der Arzneimittelpreisbindung hätte zur Folge, dass weite Teile des deutschen Leistungs- und Abrechnungssystems (inklusive aller darauf fußenden Normsetzungen und Verträge) novelliert werden müssten. Auch von daher wird allgemein begrüßt, dass Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe einen Gesetzentwurf „zum Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln“ vorgelegt hat.
Das scheint auf den ersten Blick ein pragmatischer Lösungsvorschlag zu sein. Ich befürchte aber, dass der gewählte Weg aus zwei Gründen nicht zielführend ist: Einerseits, weil er aus zeitlichen Gründen der Diskontinuität anheimfällt, und andererseits, weil das EuGH-Urteil keine Möglichkeit bietet, im EU-Ausland ansässigen Versandhandelsapotheken bei Belieferung von GKV-Versicherten das deutsche Rahmenvertragsrecht aufzuzwingen. Das würde dem Recht der Warenverkehrsfreiheit widersprechen, erklärte der Vorsitzende Richter am Bundessozialgericht Prof. Dr. Ernst Hauck – und ergänzte, dass die europarechtlichen Prämissen einer intelligenten, interessengerechten Lösung des deutschen Gesetzgebers für das nationale deutsche Recht nicht entgegenstünden.
Meines Erachtens gäbe es einen probaten Weg aus dieser verzwickten Gemengelage: nämlich die deutsche Mehrwertsteuer für Arzneimittel von 19 auf sieben Prozent zu senken.
Ihr