Berend Groeneveld hält den Heilberuf des Apothekers in der öffentlichen Darstellung für unterrepräsentiert und den Zeitplan zur Einführung des e-Rezepts für unrealistisch. Und was die Lieferausfälle bei den Arzneimitteln betrifft, vermutet er, dass die Probleme künftig noch zunehmen werden. Der 57-jährige Pharmazeut ist Vorstandsvorsitzender des Landesapothekerverbandes (LAV) Niedersachsen, Mitglied im geschäftsführenden Vorstand der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), Patientenbeauftragter der ABDA und Vorstandsmitglied beim Norddeutschen Apothekenrechenzentrum. Er stand dem „Niedersächsischen Ärzteblatt“ - für die nächste Ausgabe - Rede und Antwort.

 

– Wo sehen Sie Ihren Berufsstand in der öffentlichen Darstellung? Ist da die ärztliche Schiene zu stark im Fokus?
Groeneveld: Der Berufsstand des Apothekers ist in der öffentlichen Darstellung unterrepräsentiert, weil das System Apotheke – glücklicherweise – immer noch zu gut funktioniert. Das heißt, die Kalamitäten, die durch die Gesetzgebung beziehungsweise die Umsetzung von Vorschriften oder durch Lieferengpässe hervorgerufen werden, versuchen wir weitestgehend vom Patienten fernzuhalten. Das wird uns – vor allem politisch – immer schwerer gemacht. Ich sehe die Apotheke als niedrigstschwelligen Einstieg in das Gesundheitssystem. Wir sind 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche da – im normalen Tagesdienst wie im Nacht- und Notdienst. Man kann also jederzeit, und das ohne Anmeldung, mit einem akademischen Heilberufsangehörigen über Gesundheitsprobleme sprechen. Die werden dann entweder gelöst, oder der Patient wird an einen Arzt beziehungsweise an ein Krankenhaus weitergeleitet, wo eine differenzierte Betreuung stattfindet. Von daher sehe ich den Apotheker durchaus auch als Lotsen im Gesundheitswesen, denn er hat die Möglichkeit, den Patienten an die Stelle zu dirigieren, die seinem Krankheitsgeschehen entspricht.

 

– Thema „e-Rezept“: Die Ärzteschaft fordert, dass die Anwendung des e-Rezepts einfach sein muss, um die Bürokratie in den Praxen abzubauen – es gibt ja aktuell die unterschiedlichsten Rezeptformen
Groeneveld: Ich kann diese Forderung in jedem Fall nachvollziehen. Bürokratieabbau ist in allen Bereichen des Gesundheitswesens extrem wichtig. Aber – wie soll das gehen, wenn beispielsweise das Bundesgesundheitsministerium in 20 Monaten 20 Gesetze auf den Weg bringt, die mit ihren Neuregelungen noch mehr Bürokratie provozieren, während im Gegenzug nicht eine einzige Vorschrift abgeschafft wird?

Natürlich wird es in der Übergangsphase zum e-Rezept für Ärzte wie Apotheker zusätzlichen Aufwand geben, weil das e-Rezept neben dem Papierrezept vorhanden sein wird. Erst wenn diese Parallelphase vorbei ist, wird sich der Arbeitsaufwand reduzieren.

– Wie lange könnte diese Phase dauern?
Groeneveld: Das hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Dazu gehört die Bereitschaft der Verordner, das e-Rezept zu nutzen, und die der Bevölkerung, es anzunehmen. Es kommt darauf an, wie technikaffin die Beteiligten sind – allen voran die Patienten. Ältere Patienten werden mit dem e-Rezept sicher größere Schwierigkeiten haben als junge Leute.

- Ein Problem sieht die Ärzteschaft beim e-Rezept in der qualifizierten elektronischen Signatur. Die sei nicht anwenderfreundlich und koste Zeit.
Groeneveld: Ich sehe das ähnlich. Was uns im elektronischen Bereich noch komplett fehlt, ist ein Urkundenstatus des Rezepts, den es als Papierrezept ja hat, der sich aber elektronisch so noch nicht darstellen lässt. Ich hoffe da auf leicht umsetzbare Lösungen. Gleichzeitig müssen wir ein mögliches Missbrauchspotenzial beziehungsweise die Fälschungssicherheit im Auge behalten. Das bringt eventuell unvermeidbar komplizierte Signaturverfahren mit sich.

- Der zusätzliche Zeitaufwand dürfte die Apotheken doch gleichfalls treffen?
Groeneveld: Ja, auf der Apothekenseite wird es ebenso aufwendig. Denn auch der Apotheker muss eine digitale Signatur erbringen. Das funktioniert nur, wenn dies schnell und unkompliziert durchgeführt werden kann – ohne technische Verzögerungen. Die digitale Infrastruktur ist hierfür in einigen Regionen Niedersachsens noch nicht ausgelegt. Nur bei entsprechender Infrastruktur kann sichergestellt werden, dass eine elektronische Verordnung den gleichen Sicherheitsstandard erfüllt und den gleichen Zeitaufwand bedeutet wie die Bearbeitung einer Papierrezeptverordnung.

- Kritik gibt es an den gesetzten Fristen, innerhalb derer die technischen Voraussetzungen für das e-Rezept in Arztpraxen (Ende März 2020) und Apotheken vorhanden sein müssen. Ist dieser Zeitplan zu ambitioniert?
Groeneveld: Der Zeitplan ist sicher ambitioniert – allein schon angesichts der Tatsache, dass lange Zeit nichts getan wurde. Dies aber nicht aufseiten der Berufsgruppen, sondern seitens der Industrie. Es fehlen zugelassene Konnektoren, die in der Lage sind, Heilberufsausweise zu lesen und elektronische Verordnungen auszuführen. Es fehlt zertifizierte Soft- und Hardware. Das alles wird erst jetzt entwickelt, ist jedoch noch nicht getestet und auch nicht von der Gematik freigegeben. Insofern ist der Zeitplan für Ärzte wie Apotheker – die die Voraussetzungen bis Ende September erfüllen sollen – ambitioniert.

Dazu folgende Rechnung: Es müssen zirka 20.000 Apotheken mit e-Health-Konnektoren ausgestattet werden. Dafür wird pro Apotheke ein halber Tag veranschlagt. Da kann man sich ausrechnen, dass das halbe Jahr bis zum 30. September nicht reicht. Bei den Arztpraxen sieht es vordergründig wohl etwas besser aus, weil – soweit ich informiert bin – ein Teil bereits mit Konnektoren ausgerüstet ist.

- Sind das für Arztpraxen und Apotheken unterschiedliche Konnektoren?
Groeneveld: Die geforderten Funktionen unterscheiden sich. Konnektoren müssen nicht nur einen Heilberufsausweis lesen können, sondern gleichzeitig Rezeptausstellungen ermöglichen sowie die Datensicherheit gewährleisten. Und in der Apotheke muss sowohl das Lesen wie Beschriften des Rezepts möglich sein.

- Ein anderer Themenkomplex: Das Bundesgesundheitsministerium präferiert als Modellvorhaben, in den Apotheken Grippeimpfungen (Stichwort: Masernschutzgesetz) ebenso zu erproben wie Wiederholungsrezepte. Die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen hat sich dagegen ausgesprochen. Wie ist Ihre Position hierzu?
Groeneveld: Das Thema „Impfen“ ist durchaus zwiespältig zu beurteilen. Festzustellen bleibt aber, dass im europäischen Ausland, wo in Apotheken mitgeimpft wird, die Durchimpfungsrate signifikant gestiegen ist. Andererseits ist es nicht Aufgabe des Apothekers zu impfen.

Ich persönlich bin da pragmatisch: Wenn der Gesetzgeber sagt, in Apotheken soll es das geben, dann müssen wir dies anbieten – insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich um ein Modellvorhaben handelt. Um Wildwuchs zu verhindern und um größtmögliche Sicherheit zu schaffen sowie das Risiko von Nebenwirkungen so weit als möglich zu vermeiden, halten wir es als Standesorganisation für absolut notwendig und sinnvoll, in Absprache mit den Ärzten standardisierte Mindestanforderungen zu verlangen.

Wir sehen uns nicht als Konkurrenz zur Ärzteschaft. Es darf und soll hier nicht zu einem Wettbewerb zwischen Arzt und Apotheker kommen. Der Gesetzgeber möchte, dass wir die Patientengruppen erfassen, die nicht in die Arztpraxen gehen. Ihnen bieten die Apotheken, wie bereits gesagt, einen niedrigschwelligen Einstieg in das Gesundheitssystem.

Die Impfung hat, ob in der Praxis oder Apotheke, zum gleichen Preis stattzufinden. Die Schulung der Apotheker muss durch Ärzte erfolgen. Und: Es darf keine Steuerung durch die Krankenkassen vorgenommen werden, sodass bestimmte Praxen oder Apotheken nicht ausgeschlossen werden können. Einzig der Patient hat zu entscheiden, wo er sich impfen lässt. Problem- oder schwierige Fälle können wir immer an den Arzt verweisen, damit er die Ursachen detektieren kann – im Sinne der Gesundheitsvorsorge.

Im Übrigen ist auch Niedersachsens Sozialministerium dafür, dass dieses Modellprojekt startet. Wir wären als Berufsstand nicht gut beraten, uns gegen die Bundes- wie die Landesregierung zu stellen. Unbeschadet dessen ist für uns wichtig: Dies alles soll nicht gegen, sondern in Absprache mit der Ärzteschaft umgesetzt werden.

- Und wie stehen Sie zum Wiederholungsrezept?
Groeneveld: Das Wiederholungsrezept haben wir in Deutschland schon bis weit in die 80er-Jahre für Privatversicherte gehabt. Insofern verstehe ich die Problematik nicht so ganz. Ich halte es für ein probates Mittel, um auch die Arztpraxen von Bürokratie zu entlasten. Solche Rezepte – für maximal ein Jahr oder zur vierfachen Wiederholung – böten sich für Patienten an, die gut eingestellt und zuverlässig sind, also bei chronischen Erkrankungen, bei denen sich das Krankheitsbild voraussichtlich nicht verändern wird.

Ein praxistaugliches Konzept gibt es noch nicht, aber der Deutsche Apothekerverband ist in Übereinstimmung mit dem Bundesgesundheitsministerium dabei, Lösungen aufzuzeigen. Doch auch hier gilt: Das geht nur mit der Ärzteschaft und nicht gegen sie.

 

- Abschließend zu einer bedrohlichen Entwicklung in der Arzneimittelversorgung: Lieferengpässe haben drastisch zugenommen. Worin liegen die Ursachen, und wie ist Abhilfe möglich?
Groeneveld: Die Lieferengpässe haben verschiedene Ursachen. Eine davon ist die Konzentration der Hersteller auf wenige Produktionsstätten, die zumeist im außereuropäischen Ausland, in Dritte-Welt-Ländern und Asien beheimatet sind. Damit findet ein Großteil der Generikaproduktion nicht mehr in Europa statt. Das hat lange Lieferwege zur Folge. Und bei System- oder Fabrikausfällen – Beispiel: Valsartan-Verunreinigungen – kann es passieren, dass die Lieferfähigkeit weltweit nicht mehr gewährleistet ist.

Im Fall Valsartan sind von 21 in Deutschland gelisteten Herstellern 17 durch Verunreinigungen aufgefallen, die alle im asiatischen Raum produzieren. Bei Ibuprofen sind aufgrund des Ausfalls nur einer Produktionsstätte über 20 Prozent der Weltproduktion eingebrochen. Die Ausfälle trafen zu einem großen Teil Europa.

Das lässt sich nicht mehr flexibel auffangen, weil uns durch den Preisdruck, unter dem wir stehen, schon lange nicht mehr alle Hersteller mit Substanzen beliefern. Die über den Preis – aber ebenso über die Rabattverträge – erfolgten Konzentrationsprozesse haben dazu geführt, dass das System anfällig ist.

Wir haben in Europa auch keinen Hersteller mehr, der Antibiotika produziert. Das könnte beispielsweise bei Naturkatastrophen, wenn der Bedarf plötzlich massiv steigt und eine vernünftige Lagerhaltung nicht vorhanden ist, zu einem großen Problem werden.

- Haben Sie, hat die verfasste Apothekerschaft hier ein Konzept?
Groeneveld: Wir haben seitens der ABDA einen 8-Punkte-Katalog erstellt, um den Lieferengpässen entgegenzuwirken. So wollen wir die Hersteller dazu verpflichten, einen bestimmten Vorrat an Wirkstoffen vorzuhalten, um zum Beispiel bei Produktionsausfall einer Fabrik die Lieferfähigkeit sicherzustellen. Außerdem fordern wir, dass Rabattverträge nur mit mehreren Wirkstoffherstellern abgeschlossen werden dürfen. Weitere Forderungen sind unter anderem, die Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln wieder verstärkt in Europa anzusiedeln und Exporte versorgungsrelevanter Arzneimittel bei Lieferengpässen beschränken zu können. Zugegeben: Nicht alles kann sofort passieren, doch die Politik muss endlich einen Anfang machen, damit wir – zumindest in drei bis vier Jahren – wieder Versorgungssicherheit bekommen.

Derzeit verursachen die Lieferausfälle sowohl bei den Ärzten wie bei uns in den Apotheken eine Unmenge an Mehrarbeit. In diesem Zusammenhang können wir Apotheker für unseren neuen Rahmenvertrag, der es uns erlaubt, bei Lieferausfällen flexibler zu reagieren, dankbar sein. Dennoch ist in vielen Fällen eine Rückfrage beim Arzt notwendig, oder es muss eine neue Verordnung erstellt werden. Das kann bis dahin gehen, dass der Patient neu eingestellt werden muss, weil der ihm bisher verordnete Wirkstoff nicht verfügbar ist.

- Ist bei den Lieferengpässen das Maximum erreicht, oder kommt da unter Umständen noch mehr?
Groeneveld: Ich glaube, dass die Lage sich künftig noch deutlich verschlechtern wird. Und: Es können, das zeigt aktuell das Beispiel des Corona-Virus, selbst einfachste Dinge wie Virendesinfektionsmittel oder Atemmasken betroffen sein, die landesweit nicht mehr verfügbar sind. Eine Just-in-time-Produktion in der Gesundheitsversorgung – sowohl im Arzneimittelsektor wie beim Zubehör – funktioniert nicht und ist fehl am Platze.

Das Interview führte Jürgen R. Draxler